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Sonntag, 3. Januar 2016

Ein Sonntagslicht

Sind wir doch mal ehrlich: ein Besuch im Seniorenheim ist meistens eine ziemlich traurige Angelegenheit. Pünktlich zur Kaffeezeit rückt man an. Dann sitzen sie dort, die Senioren. Einige werden gefüttert, weil sie zu alt oder zu krank sind, um selbst zu essen. Vor jedem Heimbewohner steht ein Stück Kuchen, eine Tasse Kaffee, ein Glas Wasser. Es sieht lecker aus. In sich versunken essen die Senioren ihren Kuchen, trinken den Kaffee. Geredet wird kaum. Man hört das Klappern der Tassen, die Geräusche, die die Gabeln auf einem Teller machen. Das Pflegepersonal kümmert sich um die Senioren, hilft beim Essen oder wischt hier und dort ein bisschen Geklecker weg. Manch ein Heimbewohner hat Besuch und mit Engelsgeduld erklärt eine Tochter ihrer bewegungseingeschränkten Mutter, wie sie den Kuchenbissen zum Mund führen soll. Alles im Raum ist wunderhübsch dekoriert. An einem Weihnachtsbaum leuchten Kugeln, Lametta und Kerzen. Trotzdem wirkt der Raum einsam. Plötzlich verändert sich die Stimmung. Ein Ehepaar betritt mit ihrem Baby den Raum. Die Senioren wirken wie ausgewechselt, betrachten interessiert den Maxi-Cosi. "Was ist es denn?" "Wie heißt er?" "Wie alt ist er?" Die Stimmung erhellt sich. Der kleine Fratz wird aus dem Maxi-Cosi herausgenommen, grinst mit seinem zahnlosen Lächeln in die Runde. Die Senioren lassen den Kuchen Kuchen sein und lachen das kleine Baby an. Vor einigen Tagen meinte die Schwiegermutter noch "Die Oma verwechselt grad wieder alles". Von Demenz ist aber keine Spur mehr zu sehen. Der Stolz leuchtet aus ihren Augen, als sie ihren Urenkel betrachtet. Dieser greift die ihm dargebotene, faltige Hand. 94 Jahre trennen die beiden. Neugierig begutachtet der fünf Monate alte Junge die Hand der Uroma. Sie lacht und freut sich, ist ganz klar. An diesem Nachmittag verwechselt sie nicht den Sohn mit dem Enkel, weiß, zu wem ihr Urenkel gehört, erzählt nicht, wer angeblich schon da war. Ganz stolz erklärt sie jedem, der fragt, wer heute zu Besuch gekommen ist. Und es scheint so, als würde das Licht des Tannenbaums an diesem Sonntag ein bisschen heller strahlen.

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