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Freitag, 9. September 2016

Große Sorgen, kleine Sorgen

Manchmal ist mein Mamadasein ganz schön anstrengend. Abends lässt sich der kleine Mann am liebsten von mir trösten, braucht noch seine Kuscheleinheiten. Ein gemütlicher Abend vor dem Fernseher? Selten. In Ruhe essen? Schwierig, denn der Sommerspross hat momentan seine Vorliebe für meinen Teller und mein Glas entdeckt. Das möchte er ausprobieren (ist ja auch richtig so). In Ruhe mit Freundinnen treffen? Das sieht in der Regel so aus, dass eine von uns ihrem Kind hinterrennt, um es vor Dummheiten zu bewahren à la Treppe runterfallen, Steckdose inspizieren, die Katze/den Hund am Schwanz durch das Wohnzimmer ziehen oder auch zu gucken, wie dehnbar die Lefzen des Nachbarhundes sind. Man ruft sich also lediglich ab und zu kurze Sätze zu und ist informiert. Hobbies ausüben? Funktionieren nur, wenn ein Babysitter (am liebsten natürlich der Papa) pünktlich zuhause ist und man entweder in die Probe, zum Sport oder sogar ins Theater gehen kann. Kurze Nächte, weil der kleine Mann weint und mal wieder die Zähne drücken. Nächtliches Rumtragen, damit der Nachwuchs besser schlafen kann oder gar in den Schlaf findet, hatten wir auch wochenlang. Der Haushalt wird zwischen Tür und Angel gemacht, wenn der Sommerspross schläft und man selbst nicht gerade vor Erschöpfung ebenfalls eingeschlafen ist. Erste Wutanfälle müssen mehr oder weniger gekonnt ignoriert oder versorgt werden. Nicht zu vergessen das Zusammentreffen mit anderen Kindern: Ältere haben manchmal die Eigenschaft, aus Jux loszukreischen. Für das sensible Gehör des Kleinen ein Desaster. Also wieder trösten. Oder Kinder, die zwicken oder beißen - alles schon gehabt. Ja, es ist ein Jonglieren mit wenig Schlaf, viel Geduld und täglichen Überlegungen, wie es dem Kleinen nicht langweilig wird. Spielplatz, Treffen mit Altersgenossen, Oma und Opa besuchen. Der tägliche Vitamin D-Bedarf sollte ja nicht unterschätzt werden, also raus an die frische Luft. Wenn ich dann doch mal die Möglichkeit habe, zu lesen, springen mir viele Meldungen rund um Flüchtlinge ins Gesicht. Es sind zuviele, mosern die einen. Wir schaffen das nicht, sagen die anderen. Vor einem Jahr habe ich kartonweise Kleidung zu einer Frau gebracht, die sich um Flüchtlingsfrauen gekümmert hat. Viele der Frauen hatten kleine Kinder dabei, sind wochen- oder monatelang mit ihren Kindern aus Syrien oder anderen Krisengebieten unterwegs gewesen, zu Fuß, mit überfüllten Booten. Unser Sommerpross wiegt mittlerweile gute elf Kilo, mein Rücken dankt es mir jeden Tag. Was müssen diese Frauen gedacht haben, als sie ihre Kinder getragen haben, wenn sie nicht laufen oder vor Erschöpfung nicht mehr laufen konnten? Ein Beispiel einer anderen Frau vergesse ich nie: Sie ist schwanger geflohen, kam in Deutschland an, als sie ungefähr im achten Monat war. Als ich soweit war, mochte ich mich kaum noch bewegen. Die Frau jedoch lief mit schlechtem Schuhwerk aus Angst vor Krieg und Verfolgung viele viele Kilometer. Schwanger! Einen beschwerlichen Weg! Geschlafen hat sie am Wegesrand, in nassen Zelten und in Flüchtlingslagern. Die Furcht trieb sie an. Sie wollte leben und ihrem ungeborenen Kind die Chance bieten, zu leben. Ohne Angst, verfolgt und ermordet zu werden. Wir fahren zweimal pro Woche einkaufen, um den Kühlschrank wieder aufzufüllen. Flüchtlinge müssen täglich darum bangen, Essen zu bekommen, zu finden oder auf hilfsbereite Menschen zu stoßen. Ich habe von Kindern gelesen, die eine Woche lang dieselbe Windel anhatten - weil es keine Windeln gab. Unser Sommerspross schreckt nachts ab und zu hoch, weil er Albträume hat. Vor welchen Albträumen müssen Kinder auf der Flucht beschützt werden? Wie schaffen es ihre Eltern, Trost zu spenden, wenn sie doch selbst oft hoffnungslos sind? Und doch ist es diesen Familien lieber, sich auf eine ungewisse Flucht mit allerlei zu begeben, als täglich im Heimatland mit Terrorismus konfrontiert zu werden. Dagegen sind Zähne wohl ein Kinkerlitzchen.

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